Giselle

Giselle – eine Geschichte, die viele von uns durchleben müssen. Giselle verliebt sich in Albrecht, dieser erwidert ihre Gefühle, ist allerdings nicht frei. Sein Herz ist auch an seine Verlobte Barthilde gebunden. Hilarion wiederum, der Betreiber eines Wirtshauses, in dem die Handlung des 1. Aktes spielt, ist in Giselle verleibt. Giselles Gefühle haben sich allerdings für Albrecht entschieden. Eine Situation, die tagtäglich in unserer Welt geschieht. Gefühle sind keine Konstante, sondern bewegen sich zwischen Leidenschaft, Liebe, Schmerz und Verzweiflung. Auch wenn wir heute lieben, ist das kein Garant für die Zukunft. Wir können weder für unsere, noch für die Gefühle dessen, den wir lieben, eine Garantie abgegeben, nur eine Willensbekundung. Die Verzweiflung des Hilarion, dessen Gefühle von Giselle nicht konkret erwidert werden, endet in einem tödlichen Abschied. Hilarion greift sturzbetrunken zur Waffe, um Albrecht zu stellen. Giselle will eingreifen – ein Schuss löst sich und sie geht tödlich getroffen zu Boden. Wieder beherrschen die Gefühle unkontrolliert unsere Welt. Die Lebenden bleiben verzweifelt in ihrem Schmerz zurück. Giselle betritt durch ihren Tod eine neue Welt. Diese zeigt sich im zweiten Akt.

Giselle – unsere Welt bewegt sich zwischen Leben und Tod und Liebe und Schmerz. Eine Polarität, die Ricardo Fernando und Adolphe Adam, der Komponist, hervorragend in den zwei Akten dargestellt haben. Der erste Akt zeigt, wie sich Giselle in den beiden Polaritäten Liebe und Schmerz hin und her bewegt. Immer wieder zwischen der Zerreißprobe von Leidenschaftlicher Anziehungskraft mit Albrecht und dem Schmerz der Zurückweisung durch ihre Konkurrentin Barthilde, Albrechts Verlobte. Die Spannung zwischen Liebe und Schmerz durchleben alle Hauptdarsteller: Giselle, ihr geliebter Albrecht und ihr Verehrer Hilarion. Es ist ein unentwegter Kampf der Gefühle. Dieser Kampf geht im ersten Akt für Giselle tödlich aus, weil in einem Handgemenge ihr unglücklicher Verehrer Hilarion versehentlich Giselle und nicht seinen Nebenbuhler Albrecht tötet.

Der zweite Akt beginnt mit der neuen Welt, in der Giselle sich jetzt bewegt. Die Welt im Reich der Toten. Sie folgen ihren eigenen Gesetzen und ihrem eigenen Tanz. Tanz ist der Ausdruck ihrer Gefühle und ihres Seins. Die Toten Wilis werden beeindruckend und faszinierend vom Intendanten in Szene gesetzt. Männer wie Frauen tanzen ihre Leidenschaft im Reich des Totenwaldes. Wer sich in diesen Wald als Lebende verirrt, ist in Gefahr. Wer sich in diesem Wald ab Mitternacht verirrt, ist in Gefahr. Denn die Wilis animieren zum Tanz, bis zur tödlichen Erschöpfung. Auch die unglücklichen Liebenden, Albrecht und Hilarion, irren durch das Reich der Wilis. Auch hier geht es um Liebe und Schmerz. Giselle begegnet Albrecht im Tanz wieder und dort vereinen sie sich, um doch nicht beisammen bleiben zu können, und schmerzlich werden sie wieder getrennt.

Die Rolle der Giselle ist für jede Primadonna eine Traumrolle. Sie spiegelt das Leben und den Tod im Tanz hervorragend wider. Das Leben ist eine Tanzfläche, in der wir uns alle bewegen. Der Tanz ist der Ausdruck unsere Gefühle, die den Menschen trotz aller gesellschaftlichen Stände und täglicher Verpflichtungen dominant beherrschen. Egal ob adelig oder Volk. Welchen Hintergrund wir im Leben uns auch immer gewählt haben oder aus welchem wir kommen – wir werden von unseren Gefühlen kontrolliert. Giselle, Albrecht, Hilarion, Barthilde: Alle werden durch die Beherrschung ihrer Gefühle durch ihr Leben geführt. Die Aufführung Giselle am Augsburger Staatstheater, inszeniert von Ricardo Fernando, ist ein Gefühlshighlight für jeden Besucher. Dorin Gal, als Verantwortliche für die Bühne und Kostüme, hat mit Liebe zum Wesentlichen und gleichzeitig modernen, klaren Linien die Unterschiede zwischen Volk und Adligen hervorragend präsentiert. Und dennoch traten sowohl Bühne wie auch Kostüme in den Hintergrund für die wesentliche Aussage von Leben und Tod, Liebe und Schmerz, die jeden von uns täglich begleitet und bestimmt.